Maßgebliche studentische Milieus begeistern sich für Multikulturalismus und Weltbürgerei, weil sich die Nachwuchs-Akademiker für die Profiteure der Globalisierung halten. Nach der Bologna-Reform dämmert nun aber vielen, daß auch sie zu den Verlierern der Entnationalisierung gehören.
Der sogenannte Bologna-Prozeß wurde 1999 von europäischen Bildungspolitikern und ihnen zuarbeitenden Wirtschaftslobbyisten in Gang gesetzt. Ziel der Initiative ist die Schaffung eines einheitlichen europäischen Hochschulraums bis zum Jahr 2010. Kernelement dieser Gleichschaltung der Universitätslandschaft und der Beseitigung nationaler Hochschultraditionen ist die Einführung des zweistufigen Studiensystems mit den europaweit vergleichbaren Abschlüssen Bachelor und Master. Der Eindruck, sich im starren Korsett des neuen Bachelor-Systems nur wegen neoliberaler Anpassungs- und Effizienzdiktate herumquälen zu müssen, nährt nun ganz wesentlich den studentischen Protest in vielen deutschen Städten. Befeuert wird dieser auch von dem dumpfen Gefühl, den Wunschzettel der Globalisierer artig abzuarbeiten und trotzdem keine akademische Aufstiegsperspektive mehr zu haben.
Ziel der Bologna-Reformer ist der flexible und damit wirtschaftshörige, der mobile und damit heimatlose Student. Der so herangezüchtete Discount-Akademiker soll auf dem europäischen Arbeitsmarkt wie ein Bauer auf dem Schachbrett hin und hergeschoben werden. Zweck der Brüsseler Wirtschaftszone ist es ja gerade, neben Waren und Kapital, Dienstleistungen und Arbeitskräften auch die “Humanressource Wissen” ungehemmt zirkulieren zu lassen, um Marktbedürfnissen dienstbar gemacht zu werden. Diesem Ziel unbedingter Mobilität standen bisher unterschiedliche nationale Hochschulsysteme mit unterschiedlichen Studieninhalten und Abschlüssen im Weg. Um diesen “Bremsklotz” der Internationalisierung zu beseitigen, beschlossen EU-Bildungsbürokraten vor zehn Jahren im italienischen Bologna die zwangsweise Einführung eines verschulten Turbostudiums mit minderqualifizierenden, aber europaweit wenigstens identischen Bachelor-Abschlüssen.
Dagegen gehen nun Zehntausende Studenten auf die Straße. Sie beklagen die allgemeine Unterfinanzierung der Universitäten, die umso mehr ins Auge sticht, wenn man registriert, wofür in dieser Pleitegeier-Republik noch reichlich Geld da ist. Natürlich nicht für deutsche Familien, armutsbedrohte Kleinverdiener und die vielbeschworene Bildung, sondern für marode Banken. Und das, obwohl die schuldenfinanzierten Geldgeschenke an die Finanzmafia eine schwere Hypothek für die Zukunft sind, während Bildung eine lohnende Investition in die Zukunft des ganzen Landes wäre. Die Studentenschaft kritisiert aber auch die ganz konkreten Begleiterscheinungen des europäischen Einheitsstudiums im Bachelor-Format. Dazu gehören zu enge Stundenpläne, zu viele Prüfungen und zu wenig Wahlfreiheit. In jeder Vorlesung haben sie nun “Credit Points” nach dem europäischen ECTS-System zu sammeln und in Prüfungen “Module” zu erwerben. Dieses Leistungspunktesystem soll eine europaweit!
einheitliche Bewertung der Studienleistungen ermöglichen und geht – wie jede Gleichschaltungsmaßnahme – auf Kosten individueller Freiheiten wie nationaler Traditionen.
Die NPD-Fraktion im Sächsischen Landtag hatte 2005 zu einer Expertenanhörung anläßlich der Änderung des sächsischen Hochschulgesetzes Professor Bernd Rabehl als Sachverständigen eingeladen. Zum universitären Qualitätsverfall durch Modularisierung und Verschulung erklärte er: “Die europäische Universität wird dem bürokratischen Aufwand erliegen, Bausteine von Wissen zu benennen, Methoden vorzustellen, um Wissen zu reduzieren bzw. zu nivellieren, um einen Grad oder Titel zu geben. Die Massenausbildung wird jede Qualität zerstören. Die Studenten werden zu Schülern gemacht, die einem Prüfungspensum folgen müssen, und die Dozenten sind in ihrem Spezialwissen eher Lehrer und haben mit den Professoren der Universität kaum etwas gemeinsam.” Im selben Jahr warnte die “Frankfurter Allgemeine”: “Die Bolognisierung der Hochschulen führt zu einer Fixierung auf Zahlen und Statistiken, während die Qualität nur eine untergeordnete Rolle spielt. Es ist ein vorde!
rgründiger Wettlauf um internationale Konkurrenz, die zum Selbstzweck wird.”
2008 erklärte auch der Deutsche Hochschulverband, daß er den Bologna-Prozeß in Deutschland für gescheitert hält. Wichtige Reformziele wie die Senkung der Abbrecherquoten und die Erhöhung studentischer Mobilität seien nicht erreicht worden. Im Gegenteil: die starre Organisation des Bachelor-Studiums habe die Gesamtabbrecherzahlen sogar noch steigen lassen. Zudem seien die Studiengänge nun so spezialisiert, daß ein Studienortwechsel während des Bachelor-Studiums selbst innerhalb Deutschlands nahezu unmöglich sei. Der für die etablierten Hochschulpolitiker niederschmetternde Befund: Der Bachelor taugt als berufsbefähigender Regelabschluß gar nichts.
Deshalb stehen neben den Studenten auch viele Professoren auf den Barrikaden. Zu ihnen gehört der Theologe Marius Reiser, der aus Protest gegen die Bologna-Reform sogar seine Professur in Mainz niedergelegt hat. Gegenüber der Presse sagte er: “Das neue Studiensystem ist eine einzige große Dummheit. Man schafft die bewährten und weltweit angesehenen Abschlüsse ab und ersetzt sie durch neue, die es noch nirgends auf der Welt gegeben hat. Und man macht das nicht probehalber bei zwei oder drei Universitäten, sondern gleich überall. Die Autonomie der Universitäten und die grundgesetzlich garantierte Freiheit von Forschung und Lehre kümmert niemanden mehr. Man hatte hehre Ziele: höhere Mobilität, internationale Vergleichbarkeit der Abschlüsse, Senkung der Abbrecherquoten, Verbesserung von Forschung und Lehre. Das Gegenteil ist erreicht worden. Auch wenn an den Gebäuden ganz groß ‚Universität’ steht, ist das keine mehr.”
Obwohl sie zu den staatstragenden Funktionseliten gehören, laufen insbesondere Juristen und Mediziner Sturm gegen die Hochschulreform, die die bewährten Staatsexamina durch das sechssemestrige Schmalspurstudium des Bachelor ersetzt. Der Deutsche Anwaltsverein und der Deutsche Juristen-Fakultätentag warnen schon seit Jahren vor dem Qualitätsverlust durch das EU-genormte Discount-Studium. Für sie qualifiziert ein Bachelor-Studiengang Jura nie und nimmer zum Beruf des Richters oder Rechtsanwalts. Der Rechtswissenschaftler Bernhard Kempen kritisiert den Trend zu verschulten Studienplänen mit klaren Worten: “Alle diese haarklein festgelegten Module führen zu einem Scheuklappenstudium, das den Blick nach rechts und links verstellt. Damit werden keine Innovationsträger und Funktionseliten herangebildet.”
Ein Bachelor-Jurist mag ja beruflich noch irgendwo als Bürokraft unterkommen, auch wenn er nie die Anwaltstätigkeit und das Richteramt wird ausüben können. Doch als was sollen Bachelor-Mediziner eingesetzt werden? Sollen sie nach sechs Semestern Blitzstudium schon Patienten behandeln dürfen? Die Medizin-Dozenten Josef Pfeilschifter und Helmut Wicht fragten am 22. April 2009 in einem großen “FAZ”-Beitrag, was aus diesen “Discount-Medizin-Bachelors” werden solle. Die Antwort mutet ironisch an, ist aber bitterernst gemeint: “Die Versuchung ist sicherlich groß, in Form jenes ‚Bachelors’ die Bader und Feldscher der alten Tage wiederauferstehen zu lassen, den Krankenpfleger mit erweiterter Handlungsbefugnis, den Arzt mit eingeschränktem Spielraum. Unfähig, sich niederzulassen, nicht approbiert, bar aller wissenschaftlichen Ambitionen – aber als Subalternarzt fürs Alltägliche in einem durchrationalisierten Krankenhauskonzern vielleicht brauchbar.”
Gegen diesen Reform-Irrsinn, der wieder einmal einem Versuchslabor der Europäischen Union entsprungen ist, richtet sich (viel zu spät) der studentische Protest. Reflexhaft nannte Bundesbildungsministerin Schavan die streikenden Studenten “vorgestrig”, weil sie durch ihre Kritik an den von der EU aufoktroyierten Bachelor-Studiengängen die Internationalisierung des Bildungssystems aufhalten wollten.
Wenn sich linksgestrickte Studenten nun über die Verschulung des Studiums und damit den Verlust von persönlicher Autonomie ausheulen, sind sie Opfer genau der Internationalisierung geworden, die sie sonst in Weltbürgermanier doch immer beklatschen. Das ist eine bittere Erkenntnis für ein bestimmtes Studentenmilieu, das naiverweise glaubte, eine gute Internationalisierung von der bösen Ökonomisierung trennen zu können. Aber Internationalisierung und Ökonomisierung sind siamesische Zwillinge, weil das internationale Großkapital überall die Entstaatlichung, Entnationalisierung und Entsolidarisierung vorantreibt, um eine lupenreine Marktgesellschaft zu schaffen. Vielleicht dämmert angesichts der Bologna-Katastrophe manchem Studenten, daß nationalstaatliche Souveränität und nationale Interessenpolitik nicht nur im Interesse der “kleinen Leute” ist, sondern auch im eigenen, um vor marktdiktiertem Effizienzwahn und universitärem Konformitätsdruck geschützt zu wer!
den. Bildung muß mehr sein als bloße Ausbildung nach aktuellen Marktbedürfnissen.
Jürgen Gansel, MdL
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